Der Rapscallion. Oder: Die fabelhafte Welt des Anisée
Aus dem Rapscallion Cocktail, einst in Kopenhagen erdacht, hat sich einer der heute beliebtesten „Bartenders‘ Handshakes“ überhaupt entwickelt. Natürlich bleibt er ein Scotch-Drink, sogar einer der raffiniertesten. Vor allem aber spielt gleichsam der Anis die erste Geige. Man muss nur wissen, wie. Zeit für eine Test-Sitzung.
Schaut man in den kulturellen Rückspiegel, fällt einem auf (und diese Erkenntnis ist nicht wirklich neu), dass es in den formativen Anfangsjahren der „neuen Bar“ während der Nullerjahre ein paar klare Regeln gab, wie und womit man Drinks zu designen hatte. Denn abseits der Wiederentdeckung der alten, klassischen Cocktails, gab es bei eigenen Drinks, die damals von ernsthaften Bars entwickelt wurden, fast nur drei Spielarten:
1 – der archetypische „Cuisine Style“ mit Kräutern und frischen Früchten
2 – irgendwas mit möglichst viel Chartreuse
3 – dunkelbraune, gerührte Drinks mit American Whisky oder rauchigem Scotch (Ausnahmen wie den Penicillin, wo der Scotch geschüttelt wird, zählen wir jetzt einfach mal mit dazu)
Zugegeben mag das einen Hauch verkürzt wirken, doch es steckt mehr als ein Körnchen Wahrheit in dieser Diagnose. Doch die Zeiten ändern sich. Chartreuse, zumindest der echte, wahre Chartreuse aus der Fertigung der Kartäusermönche, wird auf absehbare Zeit keine allzu große Rolle mehr spielen. Sicher kann man Chartreuse ersetzen. Aber das Produkt als Boom-Thema ist ohnehin schon länger vorüber. Der klassische Cuisine Style lebt in Form des Gin Basil Smash inzwischen ein glückliches Mainstreamleben, er hat wahrscheinlich inzwischen eine private Krankenversicherung, ein Reihenhaus gekauft und fährt dreimal pro Jahr in den Urlaub. Ansonsten läuft der einstige, im operativen Geschäft hochgradig aufwendige (sagen wir es ehrlich: oft zu aufwendige) Cuisine Style den beiden großen aktuellen Bar-Trends zuwider: Klare Drinks und Batching.
Rapscallion
Zutaten
4 cl Scotch (original: Talisker 10 Years)
2 cl PX-Sherry
2,5 bis 5 ml Anisée (oder Absinth; original: Ricard; Menge abhängig vom Produkt)
Rapcsallion mit Sonderstellung
Und die dritte Gruppe, also die mit klar, braun und wahlweise rauchig? Die hat sich etabliert, so ehrlich muss man sein. Natürlich hatte sie den Vorteil, dass sie auf den Säulen der absoluten Klassik aufgebaut ist. Noch immer kommt praktisch keine gute Bar ohne Old Fashioneds oder Manhattans aus, wenn auch in der Karte häufig eher in Form eigener Twists. Und auch ein Blick auf den gängigen Reigen der internationalen Neo-Klassiker zeigt, dass diese Drink-Gruppe sich ins Zentrum der modernen Bar gezimmert hat. Sie lassen sich sogar problemlos batchen: Greenpoint, Benton’s Old Fahioned, Little Italy, The Slope, Black Manhattan, Revolver, Mr. Brown – und der Rapscallion.
Rinse oder nicht Rinse
Im Reigen der im weitesten Sinne als Manhattan-Twists ausgelegten Drinks nimmt der Rapscallion gleich mehrere Sonderstellungen ein: Er basiert auf Scotch und ist damit streng genommen ein Ableger des Rob Roy, also der Manhattan-Abwandlung mit schottischem Whisky. Also der Twist vom Twist. Im Gegensatz zum Rob Roy, der traditionell eher mit ungetorftem Whisky zubereitet wird, fordert das Originalrezept Talisker, also einen der kraftvolleren Insel-Malts. Und da wären wir beim zweiten Aspekt der Sonderstellung: Im Gegensatz zu den meisten eben genannten modernen Twists stammt der Rapscallion weder aus New York noch aus San Francisco – sondern aus Kopenhagen. Er ist damit auch ein klares Zeichen dafür gewesen, dass anno 2007 nicht nur in den USA und London Bars auf der Höhe der Zeit operierten.
Wobei die alleinige Zuschreibung nach Kopenhagen nicht ganz zutrifft, allerdings zu den Personen, die heute vor allem für ihr dortiges Schaffen bekannt sind: Die Urform des Rapscallion wurde 2003 erstmals von Craig Harper in seiner Bar The Hallion in Edinburgh serviert, damals allerdings mit Johnnie Walker Black Label, also einem deutlich milderen Whisky, überdies ein Blend. Später zog Harpers Geschäftspartnerin Adeline Shephard nach Kopenhagen, wo sie gemeinsam mit ihrem Ehemann das bis heute aktive (und maßgeblich für die Entwicklung der skandinavischen Szene relevante) Ruby eröffnete. Dort arbeitete sie den Drink unter Verwendung des deutlich kraftvolleren Talisker zu jener Rapscallion-Form, die bekannt wurde: 4 cl Talisker, 2 cl PX Sherry und 0,25 cl Pastis.
Der Einfluss des PDT
In Folge der Kanonisierung des Rapscallion sind dem Drink zwei Änderungen zuteilgeworden, die im originalen Rezept nicht vorliegen, wie Shepard und Harper z.B. 2018 auch gegenüber dem Blog Bar Vademecum dargelegt haben. Erstens: Der Drink wird heute meist mit Absinth statt mit Pastis zubereitet, was vor allem an der Listung in Jim Meehans „PDT Cocktail Book“ (2011) gelegen haben dürfte, wo er mit ebenjener Modifikation auftaucht. Zweitens: Während der Rapscallion inzwischen meist so zubereitet wird, dass das Glas lediglich einen „Rinse“ mit Absinth oder Pastis erhält (also wie etwa beim Sazerac nur damit ausgeschwenkt wird), sieht die Urprungsform vor, dass der Anislikör bzw. Absinth als reguläre Zutat vermixt wird.
Das mag auf den ersten Blick wie ein Detail wirken, macht aber aus dem Rapscallion tatsächlich einen anderen Cocktail. Denn der Rinse funktioniert eher wie ein recht zartes Gewürz, wohingegen das aktive Vermixen den Pastis in die Rolle eines Modifiers oder Bitters rückt. Das wiederum bringt die Notwendigkeit mit sich, bei der Dosierung sehr exakt vorzugehen, weil ansonsten ziemlich schnell ein ziemlich unschönes Kippen des Cocktails droht.
Potenzial für Varianz beim Pastis
Die Konsequenz daraus? Der Anis wird beim Rapscallion zu mehr als nur dem sprichwörtlichen Zünglein an der Waage. Setzt man klassisch den Talisker als Scotch voraus und nimmt daneben einen typischen PX Sherry (in unserem Fall Valdespino „El Candado“) zur Hand, dann liegt das größte Potenzial für Varianz beim Pastis. Wir haben den Drink mit drei sehr unterschiedlichen Anis-Spirituosen – und haben sie dabei mit verrührt – ausgemixt: Mit dem belgischen „Pastis Ardent“ (45% Vol., Vertrieb: Haromex) kommt ein sehr waldiger, „breiter“ und herbaler Pastis ins Glas, der überdies biozertifiziert ist. Als heimischer Vertreter ist der Pastis der „Mosel Distillers“ dabei (45% Vol., Vertrieb: Winefactory Saar), mit dem Brenner Andreas Vallendar eine sehr klassische, aber auch komplexe und würzige Interpretation vorgelegt hat. Da diese beiden neben Sternanis auch Süßholz enthalten, dürfen sie als Pastis vermarktet werden. Beim dritten Produkt in der Test-Reihe ist das nicht der Fall. Das ist aber nicht schlimm, denn der „Pontarlier Anis Ponsec“ aus der traditionsreichen „Distillerie Guy“ (45% Vol., Vertrieb: Lion Spirits) beeindruckt trotzdem schon bei der Purverkostung. Im Gegensatz zu den anderen beiden genannten Produkten wird dieser Anisée statt mit Sternanis mit Grünem Anis hergestellt, der eine dezent weniger medizinal-weihnachtliche, aber auch dunklere und tiefere Aromatik mitbringt.
Drei unterschiedliche Pastis, drei unterschiedliche Cocktails
Beim Ausmixen zeigt sich, wie berechtigt die Annahme ist, dass der gewählte Likör im fertigen Rapscallion ein großes Gewicht hat – es stehen drei unterschiedliche Cocktails auf dem Tisch. Der Drink mit Ardent verströmt sehr viel Frische und betont, gemäß seinem beschriebenen Naturell, das Spektrum herbaler, pflanzlicher Noten (Melisse, Thymian, Kiefer). Das führt so weit, dass sich der Scotch zunächst eher von seiner malzigen Seite präsentiert. Die Töne vom Torfrauch gleiten erst weiter hinten am Gaumen aus, dann aber mit viel Kraft und Breite, flankiert von röstigen Kakao-Nuancen. Bemerkenswert ist, wie deutlich die Süße das Sherry durch den Ardent in Zaum gehalten wird. Insgesamt bringt der Ardent den flächigsten, allerdings auch am meisten rundgeschliffenen Rapscallion der Reihe hervor.
Der Cocktail mit dem Pastis von Mosel Distillers lässt dem PX Sherry in der Nase deutlich mehr Raum und auch der Torf des Scotch ist diesmal präsenter, allerdings schon kurz nach dem Servieren mit kräftigen Flanken aus Sternanis und Salmiak versehen. Im Mund ist der zweite Rapscallion verglichen mit seinem Vorgänger deutlich schlanker, aber auch präziser und entschiedener. Der Whisky steht mehr im Zentrum, auch die Süße des Sherry ist deutlicher eingebunden (aber nicht überdosiert). Der Pastis schiebt sich in diesem grundsätzlich etwas leichteren Rapscallion eher in Richtung Finish durch zart herzhafte, schmelzige Noten von Süßholz und Salbei in den Vordergrund.
Einen höchst eigenständigen (und hier leicht favorisierten) Drink hingegen liefert der Pontarlier Anis Ponsec: In der Nase mit sehr elegant eingebettetem Rauch, der toll in Spannung steht zu Rosine, Anis, Fenchelsaat und einer Spur von grünem Apfel. Der Geschmack wird bereichert durch eine deutlichere Bitternote, die den anderen beiden Konfigurationen eher fehlte und die den Sherry gut abfedert, ohne ihn auszuschließen. Im Vergleich zum Duft ist der Pontarlier-Drink geschmacklich fast überraschend süffig, aber dennoch sehr prägnant, was auch an den sehr präsenten, ätherischen Spitzen des Anisée liegt. Für noch eher ungeübte Gaumen könnte diese Variante eventuell etwas zu fordernd sein, allerdings für versierte Barflys wahrscheinlich die interessanteste.
Der Rapscallion bietet Raum für Experimente
Diese Trias demonstriert bereits eindrucksvoll, wie viel Flexibilität ein zunächst simpel und statisch wirkendes Rezept in sich trägt. Natürlich funktioniert ein Rapscallion ebenfalls mit Absinth oder den klassischen, weit verfügbaren Pastis‘ wie Pernod oder Ricard. Und selbstverständlich soll dieser Text kein Plädoyer für eine Talisker-Nibelungentreue verstanden werden – schließlich hat sich die Torf-und-Rauch-Landschaft seit 2007 stattlich weiterentwickelt. Und glücklicherweise geht ein brauner, klarer, wahlweise rauchiger Cocktail ja immer. Es bleibt also Gelegenheit für Experimente.
Credits
Foto: Aufmacher: Jule Frommelt; Mixology
Gonçalo
Ein großartiger Drink. Und zu Recht einer der bedeutendsten Modernen Klassiker.
Respektvoll und innovativ
Mit einem kreativen Swing auf den Manhattan und einer passenden und eingängigen Namesgebung.
Kennengelernt habe ich den Rapscallion bei einem Besuch im Ruby Ende der Nuller-Jahre.
Beim ausprobieren an der Rezeptur war es naheliegend, die Idee des Drinks mit Absinth auszuprobieren. Zumal Pastis lediglich nach der französischen Prohibition des Absinth im Jahre 1914 enstand. Als Ersatzprodukt sozusagen. Ein guter Absinth besteht aus einer umfassendern Kräutermischung und hat sehr viel mehr Tiefe, als ein auf Anis konzentrierter Pastis.
Auf einem New York Besuch Im Februar 2010 hatte eine Gruppe von fünf Berliner Bartendern eine Gastschicht im PDT. An einem wunderbaren Sonntagabend begeisterte der Drink auch Gaz Regan und Jim Meehan. Der Rapscallion wurde sozusagen zu einem Mitbringsel aus dem Alten Kontinent. Im Austausch entdeckten wir im Dutch Kills den Don Lockwood und brachten die Kunde mit zurück nach Berlin.
Beide Drinks wurden auf die erste Barkarte des Buck & Breck zur Eröffnung im Dezember des selben Jahres gesetzt. Die Inspiration dieser New-York Reise findet sich auch in den späteren Eröffnungen vom Tiny Cup und der Bar Zentral wieder.
Hier ein paar Eindrücke der New York Reise
http://junipertour.blogspot.com
Und hier die Barkarte aus jenem Abend
https://de.scribd.com/document/27281915/PDT-Guest-Menue#about