Water Lily: Die Verführung des Veilchens
Als ich das erste Mal das Rezept des Water Lily Cocktails gesehen habe, war mein erster Gedanke: Welcher Wahnsinnige war denn hier am Werk? Wer, bitte schön, kippt den 2 cl Crème de Violette in einen Drink, noch dazu im Verbund mit nur 2 cl Gin?
Man denkt ja auch sofort an die Kombination von Gin und Veilchenlikör im Aviation; und dabei wiederum eher an die Versuche, die nicht ganz so gut gelungen sind. Denn schon ein Hauch zu viel Crème de Violette, und der Drink wird vom Klassiker, zu dem man eine Geschichte erzählen kann, die so strahlend ist wie seine Farbe blau, zu einem Monster, das einen das Gesicht verziehen lässt, als ob man an einer Schachtel Seife geleckt hätte; und damit meine ich die, die für 0.99 Cent unten im Regal liegt.
Water Lily
Zutaten
2 cl London Dry Gin
2 cl Triple Sec (im Original Cointreau)
2 cl Crème de Violette
2 cl frischer Zitronensaft
Eine Spur zu viel des Guten
Deswegen stellen sich bei der Vorstellung von 2 cl Crème de Violette intuitiv ein wenig die Nackenhaare auf, während sich die Stirn in Falten zieht. Das – so der Gedanke – ist einfach zu viel des Guten. Das ist, etwas Gutes zu nehmen und grenzenlos zu übertreiben; das ist zu viel Parmesan über die Nudeln gerieben, das ist Cristiano Ronaldo zweimal zu viel über den Ball gestiegen, bis die Kugel weg ist, das ist so subtil wie Jim Carrey in Die Maske.
Fast im gleichen Atemzug aber habe ich damals gesehen, woher die Rezeptur stammt: Aus Das Geheime Cocktailbuch von Jim Meehan, sprich aus dem Please don’t tell (PDT). Das gibt natürlich zu denken; die Stirn zieht sich also noch tiefer in Falten, nur eben aus einem anderen Grund: Kann ja so verkehrt nicht sein, wenn Bargänger:innen aus aller Welt in New York eigens durch eine Telefonzelle schlüpfen, um diesen Drink zu schlürfen. Und blau-violett ist er auch noch.
Der Water Lily Cocktail funktioniert
Also habe ich den Water Lily Cocktail damals ausprobiert. Die Rezeptur ist ja denkbar einfach: Gin, Crème de Violette, Triple Sec (in diesem Fall Cointreau) und Zitrone im gleichen Verhältnis, jeweils 2 cl. Und siehe da: Der Water Lily Cocktail funktioniert wunderbar. Anstatt des erwarteten Gefühls, eine übertriebene Blumigkeit an den Lippen kleben zu haben, nippt man an einem tadellosen Gin Sour, in den sich das Veilchenaroma elegant einbindet. Dieses ist bereits leicht in der Nase erkennbar, ohne aufdringlich zu dominieren, und behält diese Balance auch auf dem Gaumen bei, bis das Glas leer ist.
Auch diese Stabilität ist erstaunlich am Water Lily Cocktail. Drinks kippen mit der Zeit und mit zunehmender Wärme in eine zu süße Richtung, aber die Süße nimmt hier nicht so rasch Überhand, wie man es bei der Kombination von zwei Likören dieser Art vermuten könnte. Der Triple Sec zeigt sich vielmehr als hervorragender Partner zum Veilchenlikör und lässt sich in seiner Robustheit nicht so leicht die aromatische Butter vom Brot nehmen. Dass man sich bei zwei so prägnanten Aromagebern bei der Wahl des Gins auf einen klassischen, knackigen London Dry beschränken sollte, versteht sich von selbst.
Eigentlich ein Twist der White Lady
Gleichzeitig macht der Orangenlikör den Water Lily Cocktail im Grunde zu einem Twist der White Lady, in dem Crème de Violette zur Anwendung kommt, wenn auch in einem etwas durcheinander gewirbeltem Rezepturverhältnis. Erfunden wurde der Drink allerdings gar nicht von Jim Meehan. Vielmehr stammt er von Richard Boccato aus dem Little Branch, einem Ableger des Milk & Honey – und ist somit im Grunde ein Drink aus der Schule des Sasha Petraske.
Boccato begann 2005 im Little Branch an der Tür zu arbeiten, bevor er an die Bar wechselte. Seine Kreation entstand an einem Abend im Jahr 2007, als er den Drink für Georgette Moger-Petraske erfand, der Frau des mittlerweile verstorbenen Bar-Vordenkers. Sie wollte einen Drink mit Gin und Veilchensirup. „Nach den ersten Versuchen wollte ich schon fast aufgeben, schließlich konnte Georgettes Gaumen – sowie ihr Fachwissen über Spirituosen und Cocktails – locker mit dem der meisten alten Barkeeper-Hasen der Petraske Familie mithalten“, schreibt Richard Boccato im Buch Über Cocktails. „Als wir einen Namen für den Drink suchten, landeten wir bei ihrem zweiten Vornamen: Lillian. ‚Water Lily‘ schien uns als ideal, schließlich überzeugte der neue Cocktail mit seiner frischen, klaren Leichtigkeit.“
Boccato spricht im Original von „Veilchensirup“, der im Little Branch aus Gin, Veilchenlikör (Monin) und Zuckersirup zusammengesetzt wurde, und das im Verhältnis 2:1:1. Jim Meehan hatte die Rezeptur später für das PDT allerdings bereits angepasst und den Veilchensirup durch den Veilchenlikör Crème de Violette ersetzt.
Natürlich kein Wahnsinniger
Vielleicht liegt hier ja auch das Geheimnis des Drinks. Vielleicht war an jenem Abend 2007 kein Crème de Violette zu Hand, eine Zutat, die ja lange Zeit praktisch als ausgestorben galt. So hatte der an die Bar gewechselte Richard Boccato vielleicht auch keine Hemmnisse, einen vollen Jigger Veilchen in den Shaker zu kippen. War ja schließlich „nur“ Sirup.
Wir konnten Richard Boccato für diesen Beitrag leider nicht ausfindig machen. Denn dann hätte ich mich natürlich für meine damaligen Gedanken entschuldigt: Der Erfinder des Drinks ist kein Wahnsinniger. Ich habe den Water Lily Cocktail damals vielmehr auch einige Male in der Bar kredenzt. Es ist kein Cocktail, von dem man drei oder vier trinken kann. Aber er ist eine perfekte, kleine Auflockerung. Eine kleine, frische Blume, an der man seine Gäste zwischendurch riechen lassen kann.
Und blau-violett ist er auch noch.
Credits
Foto: Sarah Swantje Fischer