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Der „Oxford Companion to Spirits & Cocktails“ von David Wondrich ist ein Monumentalwerk

Sieben Jahre hat David Wondrich mit seinem Kollegen Noah Rothbaum am„The Oxford Companion to Spirits & Cocktails“ gearbeitet. Martin Stein ist überwältigt von dem grandiosen Nachschlagewerk, das wie keines zuvor eine allumfassende Geschichte der Alkohol- und Trinkkultur niederschreibt.

David Wondrich ist ein extrem höflicher und rücksichtsvoller Mensch. Wenn man sich beispielsweise seit viel zu langer Zeit mit der Veröffentlichung der deutschen Ausgabe seines bahnbrechenden Imbibe! herumplagt, dann haut Wondrich einfach einen Ziegel raus, der, grob geschätzt, das drei- bis vierfache Volumen von Imbibe! hat, als wollte er sagen: Schau, beschwer dich nicht, du hättest es viel schlimmer erwischen können.

Viel, viel schlimmer.

„The Oxford Companion to Spirits & Cocktails“ heißt das Monumentalwerk, und David Wondrich hat es zusammen mit Noah Rothbaum herausgegeben, dem Verantwortlichen der Getränkesparte von The Daily Beast und seinem Kompagnon beim sehr hörenswerten Podcast „Life Behind Bars“.

Buch ist so grotesk wie grandios

Jeder Schüler weiß noch aus schmerzvoller Erfahrung, dass ein Buch mit „Oxford“ im Titel nur ein haltungsschädeninduzierender Kaventsmann sein kann, und auch dieser Titel ist da keine Ausnahme, mit einem Top-Rating auf der nach oben offenen Proust-Scala.

Das Buch ist so grotesk wie grandios. Dass es so etwas denn überhaupt noch gibt! Eines der ersten Opfer des Internet waren schließlich die Nachschlagewerke; die langen Brockhaus-Meter, mit denen man sich früher seinen Besuchern als Bildungshaushalt zu erkennen gab. Wikipedia konnte schnell mehr und kostete nichts; mit dem Begriff „Renommierband“ kann heute kaum noch jemand etwas anfangen.

Das, was dieser Companion zu bieten hat, schafft das Internet allerdings nicht. Neben der unzeitgemäßen Freude, so ein Werk in analoger Form in Händen halten zu dürfen, ist es ein unfassbar detaillierter und tiefschürfender Führer durch alles, was irgendwie mit dem Kontext Trinken zu tun hat: Personen, Produkte, Historien, Techniken – auf über 800 Seiten kann man sich grenzenlos austoben und Dinge erfahren, von denen man nicht einmal wusste, dass man sie nicht wusste. Denn, wie soll man beschreiben, was denn so drinsteht … irgendwie … alles. Es ist der „Hitchhiker’s Guide to the Galaxy of Spirits“, aber bedeutend ausführlicher als das Werk von Douglas Adams, selbst wenn dort der Eintrag über die Erde nach ausführlicher Recherche von „harmless“ auf „mostly harmless“ erweitert wurde.

Der „Oxford Companion to Spirits & Cocktails“ ist umfassendes Nachschlagewerk, aber gleichzeitig ein Buch, das einfach nur zum Stöbern und Blättern einlädt

Ein Nachschlagewerk auch nur zum Blättern und Stöbern

Auch Wondrich und Rothbaum hatten eine wahre Heerschar an Rechercheuren à la Ford Prefect zusammengetrommelt, die ihnen zuarbeiteten – 158 an der Zahl listet der Appendix auf, falls ich mich nicht verzählt habe, darunter viele bekannte Namen: Jeffrey Morgenthaler, Jim Meehan, Anistatia Miller und Jared Brown, Fernando Castellon, Dave Broom, Jeff Berry, Dale DeGroff, undsoweiter undsofort, und jeder der vielen, von denen man vielleicht noch nicht gehört hat, kann fürderhin mit Stolz seinen Beitrag als Referenz in seinem Lebenslauf aufführen.

Von Sloppy Joe’s haben wir alle schon gehört, aber dank des ersten Eintrags in der Spirituosenenzyklopädie wissen wir nun, dass der Gründer der legendären Bar mit vollem Namen Jose Abeal y Otero hieß. Sein Sloppy Joe’s wiederum hat einen eigenen Eintrag, der zwischen Sloe Gin und Small Batch zu finden ist.

Noch nichts gehört haben die meisten wohl von Furfural, einem heterocyklischen Aldehyd, das bei der Aufschlüsselung von Zuckern entsteht, wenn diese zusammen mit Säure erhitzt werden, und das in vielen Spirituosen zu finden ist. Hat man bislang wahrscheinlich bloß gedankenlos in sich hineingesoffen, dieses Furfural. Zum Schämen. Gottseidank ist damit nun Schluss.

Es ist ein unglaublich umfassendes Nachschlagewerk, aber es ist gleichzeitig auch ein Buch, das zum Stöbern und Blättern einlädt. Ohne jegliche negative Konnotation – es handelt sich auch um eine ideale Klolektüre, falls man seinen biologischen Output mit geistigem Input kompensieren will. Das Hotel Adlon hat einen Eintrag, Sasha Petraske hat einen, und die vielen Cocktails sind samt Rezept abgebildet, und zwar jeweils so abgestimmt, dass sich die Zentiliter auch leicht in Unzen umrechnen lassen, wem das lieber ist.

Fluch und Segen des Oxford Companion

Sieben Jahre hat es gedauert von der Idee bis zum fertigen Buch, und wenn man sich das Endergebnis so anschaut, dann muss man sagen: aach, das ging ja fix. Natürlich kann man nur erahnen, durch welche Höhen und Tiefen man während eines derartig monumentalen Projekts geht, trotz aller Hilfe von außen. Sogar Gott hat schließlich für die Bibel länger gebraucht.

„Es war Fluch und Segen zugleich, das Buch letztes Jahr beenden zu müssen. An manchen Tagen hatte man etwas, worauf man seine Aufmerksamkeit richten konnte, an anderen kam es einem wie unmögliches und nutzloses Unterfangen vor,“ erinnert sich David Wondrich. Aber nun ist es fertig, Auch als Leser sitzt man staunend vor diesem Werk, wie mag es da erst den Autoren ergangen sein.

Fatalerweise gibt es auch eine Kindle-Edition, und so muss sich das Barpersonal vermutlich weltweit darauf einstellen, dass Gäste mal kurz unter dem Tresen ein bisschen übers Tablet wischen und dann der Bedienung ungefragt erzählen, dass Hong Qu ein mit Rotschimmel veredelter, getrockneter Reis ist, der auch als Grundlage für Batavia Arrack verwendet wird. Es droht der „Gin-Connoisseur-Gast“ in seiner Potenzierung, und natürlich hätte sich das zumindest großteils vermeiden lassen, wenn man auf die digitale Version verzichtet und besagten Gast dazu gezwungen hätte, eineinhalb Kilo Besserwisserei mitzuschleifen.

Im wahrsten Sinne des Wortes „Geschichte schreiben“

Aber so sind nun mal die Zeiten; man kommt am Digitalen nicht mehr vorbei, und dennoch sei ganz eindeutig zum Kauf des Druckwerks geraten: es ist, stilecht und im besten Sinne, ein Old Fashioned, und den sollte man auch ganz altmodisch genießen, in Buchform. Dieses Buch kann man auch, wie früher, so ganz zufällig auf dem Wohnzimmertisch vergessen, damit es Besucher zufällig sehen und ausgiebig bewundern. Es wäre angebracht. „Geschichte schreiben“, man muss sich diesen Begriff wirklich auf der Zunge zergehen lassen, um die Wucht des Vorgelegten zu erfassen.

Schreiben wir deshalb nur ganz kurz eine Variante einer bekannten, sehr alten Geschichte: In der Erstfassung des Sisyphos-Mythos, die der antike Autor seinem antiken Verlagshaus vorlegte, da stattete er seinen Helden mit einem Griffel und einem nie endenden Papyrus aus, den dieser Tag für Tag vollzuschreiben hatte. Das Lektorat war seinerzeit nach ausgiebiger Marktforschung der Ansicht, dass man ihm lieber einen Stein anstelle des Stifts geben sollte, weil körperliche Plagerei die Leserschaft eher begeistern würde als geistige. Und so kam das dann auch; man kennt ja diese Verlage.

Angesichts dieses Buchs: Müssen wir uns also Sisyphos wirklich als glücklichen Menschen vorstellen?
Na ja, warum auch nicht.

Aber vermutlich hat er gesoffen.

Credits

Foto: Cover: Oxford University Press / Bearbeitung: Editienne

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