Corona Chronicles, Teil 9, 6. April 2020 – Fear and loathing … in der eigenen, leeren Bar
Das Corona-Virus und seine Auswirkungen betrifft die ganze Welt. Auch die Bar-Community steht vor großen Veränderungen. Mit unseren Corona Chronicles wollen wir für Aufklärung sorgen, die Szene vernetzen, Unterstützung bieten – und nicht zuletzt auch Abwechslung in den Alltag zu bringen. Diesmal durchlebt Martin Stein eine Nacht alleine in seiner eigenen, leeren Bar.
Nach 33 Minuten wirft die Hoshizaki zum ersten Mal; bei drei Wochen Zwangspause ist das schon ordentlich für die alte Dame. Ich mag das Ding und ihre Volleiswürfel; so etwas ist ja auch fast Standard für eine ordentliche Bar – leisten kann ich mir allerdings bloß eine, weil auch schon vor Corona Kollegen pleite gingen.
Allein in der Bar
Jetzt macht sie also Eiswürfel für mich. Nur für mich. Nur für diesen Abend. Da kann sie ja nur müde lächeln, mit ihren zig Kilo Tagesproduktion.
Ich sitze alleine in meiner Bar, die wie alle anderen in Bayern Mitte März geschlossen wurde. Seltsames Gefühl. Wir alle kennen (und lieben) diese Momente, wenn nach einer langen Schicht der letzte Gast draußen ist, irgendwoher ein Aschenbecher produziert und das beste Bier der Welt geöffnet wird – das Feierabendbier. Afterhour. Die heilige Stunde des Personals.
Jetzt ist immer Afterhour.
Es fühlt sich aber anders an. Ganz buchstäblich anfangs; die alte Heizung in meiner Wunderbar muss man eigentlich im August anwerfen, wenn man es zu Weihnachten warm haben will, und jetzt ist es in dem romanischen Keller erst mal saukalt. Die Stromverbraucher waren alle abgestellt, immerhin ist das Bier trotzdem gut temperiert. Eine kleine Chartreuse zum Aufwärmen kann auch nicht schaden. 33 Minuten bis zu den ersten Eiswürfeln müssen ja nicht unbedingt durstig verbracht werden.
Explosive Gefahr in der leeren Bar
Mit diesen treten dann auch die ersten Kollateralschäden zu Tage: Der einstmals frisch gepresste Zitronensaft wurde vergessen und ist schon recht explosiv geworden, und natürlich gibt es auch keine Limetten mehr in der Bar. So viel bittere Not hat mein Selbsterfahrungserlebnis dann auch wieder nicht verdient, und ich gehe schnell nochmal nach Hause, wo die Hamsterkäufe des Bartenders auf mich warten. Schließlich waren Limetten nie billiger.
Auf dem Weg hin und zurück zur Bar durch die Regensburger Altstadt sehe ich genau zwei Menschen. Freitagabend um kurz vor elf. Das spricht für die Vernunft der Bewohner, vermittelt mir aber trotzdem ein massives Walking-Dead-Gefühl.
Und wenn man dann in dieser Leere der Bar, die sich nun so gar nicht nach einer gewöhnlichen Afterhour anfühlt, einen Drink macht, einen Drink gegen den Bankrott und die Apokalypse allgemein, dann kann das kein Bellini sein. Da müssen härtere Geschütze aufgefahren werden.
Ich entscheide mich für einen Naked & Famous. Ja, das schmeckt schon ein bisschen nach Ground Zero. Die kurze Vernunftattacke, die Zeit doch zu nutzen und irgendwas zu reparieren, zu streichen oder zu verräumen, verdränge ich erstaunlich schnell. Diesen Zeiten ist nicht mit Effizienz beizukommen. Vielleicht auch nicht mit Saufen, aber das sollte man zumindest einmal ausprobieren.
Bemerkenswerte Gedanken sind nicht zu verzeichnen
Lange mache ich nicht einmal Musik an. Was trinken und in die Luft schauen: Im Grunde erlebe ich gerade die Bar in ihrer Urform, zumindest in meiner Vorstellung. Dieses ganze Miteinander, dieses Kommunikations-Dingens, das ist doch eher so eine neumodische Erscheinung.
Um Mitternacht feiert ein Freund Geburtstag, ganz vorbildlich über Skype. Ich schalte mich zu und freue mich, Freunde zu sehen, aber die Gespräche aus dem iPad hallen durch das Gewölbe und lassen die Bar noch leerer wirken als sie ohnehin ist. Dann lieber zurück zum Wesentlichen. Ich denke an den Zack und die Franzi in ihrer grade wiedereröffneten „Blume von Hawaii“ und mache mir einen Mai Tai. Ordentlich für einen Regensburger Abklatsch, täte ich sagen. Ich schwöre auf Wray & Nephew als Geschmacks- und Promillelieferanten. Die Fässer sind alle abgezapft; ich flankiere mit Schönramer Pils und, nach wie vor, natürlich mit Chartreuse, weil die passt ja überhaupt zu allem.
Bemerkenswerte Gedanken sind nicht zu verzeichnen. Das hier ist eine Folge von „Lost Places“; die Wunderbar liegt in Prypjat, und die Arbeiter von Tschernobyl haben bei mir immer gerne ihren Absacker genommen. Das erinnert mich daran, dass ich unbedingt mal bei Wenedikt Jerofejew das Rezept für die Komsomolzenträne nachschauen muss; Fußpuder war irgendwie dabei, glaube ich mich zu erinnern.
Noch ein bisschen sitzen bleiben
Ich sitze und schaue und trinke und schaue und sitze und trinke. Und die Stunden vergehen. Schnell. Mit der Frage „Wie geht’s dir denn?“ habe ich mich früher schon schwer getan, mittlerweile scheint sie mir ganz unmöglich zu beantworten. Ich habe keinen Schimmer. Jenseits meines Horizonts. Eher lerne ich Suaheli. Die Zeit hätte ich ja an sich. Machen werde ich es trotzdem nicht; lieber bleibe ich erst mal noch ein bisschen hier sitzen.
Jeder Mensch sollte mit dem Rauchen aufhören; zum einen ist das eine abscheuliche, schädliche Angewohnheit, und zum anderen hat man dann die einzigartige Möglichkeit, sich in solchen Momenten eine Zigarette anzuzünden. Und mein lieber Scholli, das ist mal eine Zigarette! Sakrament, alleine für so eine Zigarette lohnt sich das Aufhören allemal!
Irgendwann mache ich doch Musik an und lasse mich planlos durch irgendwelche Playlists shuffeln. Offensichtlich mag ich „Sweet Child O’ Mine“. Wer hätte das gedacht. Rammstein kann ich dafür immer noch nicht leiden. Das ist ja immerhin beruhigend. Anschließend dann die klare Erkenntnis, dass die Dog Days aber mal sicher noch lange nicht over sind. Kann man sich aber mal im Hinterkopf behalten, so für den Fall, dass dann doch mal …
Den Soundtrack gibt es schon
Wird die Wunderbar das überleben? Wird ein neuer Pächter kommen, mit einem neuen Konzept? Wird dieser dem Nachkriegspublikum Drei-Euro-fünfzig-Cocktails andrehen und das Kreuzgewölbe mit Andreas Gabalier dem freiwilligen Einsturz nahebringen? Chartreuse tut not.
Und es ist Zeit, der Musik den Zufall abzugewöhnen. Hobo Johnson und Ramshackle Glory. Und dann muss natürlich Tom Waits her, der den Soundtrack für das alles hier schon vor Jahren fertig hatte. Bone Machine, The Earth Died Screaming. Und dann vielleicht doch noch Closing Time? Stilbrüche sind ja wohl erlaubt jetzt. Irgendwie zwingt mich etwas, Pink Floyd nachzuschieben. Sowas. Neige ich etwa zu fortgeschrittener Stunde bei fortgeschrittenem Konsum zu fortgeschrittener Sentimentalität? Faszinierend. Wer hätte je von so etwas gehört.
Gottseidank ist niemand da, mit dem ich mich peinlich verbrüdern könnte. Hat alles seine Vorteile. Sollte ich stattdessen vielleicht jetzt nackt sein? Eigentlich würde ich gerne mit etwas Großkalibrigem in die Decke ballern, aber ich habe keine Waffe, und die kriminelle Szene hat ja auch sehr unter der Situation zu leiden, Schwer, jetzt aufzutreiben. Irgendwie fehlt mir der innere Ansporn, und wenn man den nicht mal jetzt hat, dann kann man es auch bleiben lassen. Wenn sich Corona noch weiter in den Sommer hineinzieht, kann man ja nochmal drüber nachdenken. Halb fünf morgens. Sammy Davis Jr., Mr. Bojangles. Huiuiui. Jetzt wird’s aber langsam Zeit.
Allerdings, ein Last Word muss schon noch sein. Wegen der tieferen Bedeutung und überhaupt. Dann aber ist Schluss. Es reicht. In jeder Hinsicht. Die Mühe aufzuräumen mache ich mir nicht. Dafür ist noch viel Zeit.
Die Sicherungen klacken nach oben, die Bar liegt wieder im Dunklen.
Come back and dance …
Credits
Foto: Foto: Shutterstock / Bearbeitung: Editienne
ChrisB.
…vielen Dank für diese Zeilen. Innerhalb weniger Minuten viermal laut losgelacht. Sehr guter Schnitt und zur Zeit zu selten! Durchhalten! Ich gehe jetzt mal Chartreuse ausm Schrank holen…