Die Geschichte des Cocktails: Zum Auftakt der großen Serie
Wenn man die Frage stellt, was ein Cocktail eigentlich sei und wer ihn erfunden habe, so hört man oft, er sei etwas ur-amerikanisches. Es wird auf einen 1806 im US-Bundesstaat New York erschienenen Zeitungsartikel verwiesen: Dort schreibt man, ein Cocktail bestehe aus einer Spirituose jeglicher Art, Zucker, Wasser und Bitters. Daraus wird dann der Schluss gezogen, dass der erste aller Cocktails praktisch ein Old Fashioned Cocktail gewesen sei. Doch das stimmt nicht.
Der Purl und Stoughton’s Elixir
Begeben wir uns auf eine Reise zurück ins 17. Jahrhundert. In jenen Zeiten trank man in England „Purl“. Um ihn herzustellen, infusionierte man ein Ale mit Wermut. Wer wohlhabender war, verwendete auch einen Sack, also einen relativ süßen Sherry, und nannte sein Getränk dann „Royal Purl“. Ein Purl wurde getrunken, um die Gesundheit zu erhalten. Man trank ihn auch am Morgen, um den Magen zu beruhigen. Seine Herstellung war durchaus zeitaufwendig.
Ende des 17. Jahrhunderts kam Richard Stoughton, ein Apotheker aus Southwark in London, auf die Idee, ein Tonikum herzustellen. Dieses wurde im Jahr 1712 als „Stoughton’s Elixir“ patentiert. Die Werbung der damaligen Zeit versprach, dass das Elixir einen geschwächten Magen zu Kräften kommen und gesunden lasse. Auch solle es den Appetit wieder herstellen, wenn dieser durch Krankheit oder übermäßigen Alkoholgenuss verlorengegangen sein sollte.
Dieses Elixir war sicherlich auch eines der ersten Instant-Produkte, denn man warb damit, daß man mit ihm einen Purl innerhalb von nur einer Minute herstellen könne, indem man einfach einen Teelöffel davon in Bier, Ale oder Sack gebe. Später nannte man dieses Elixir auch „Stoughton’s Bitters“, und der ein oder andere mag davon schon in alten Rezepten gelesen haben.
Die Kombination von Spirituosen mit Bitters, Zucker, und Wasser
Es war im 18. Jahrhundert zumindest in London auch gängige Praxis, Bitters beispielsweise mit Brandy oder Gin zu vermischen. Zucker wurde schon früh als Zutat verwendet, beispielsweise im Punch. Auch Gin süßte man. Oder man stellte einen „Burnt Brandy“ her, indem man Zucker in einer Flamme schmolz und in Brandy tropfen ließ. Darüberhinaus war Wasser eine wichtige Zutat bei der Zubereitung eines Punches. Auch die tägliche Rum-Ration der Royal Navy wurde zum Beginn des 18. Jahrhunderts mit Wasser verdünnt. Pures Wasser war ein gesundheitliches Risiko, und so desinfizierte man es mit Spirituosen.
Verwendet man alles gleichzeitig, so hat man schon lange Zeit vor der in New York erschienenen Beschreibung eines Cocktails so etwas wie einen Cocktail getrunken: Eine Mischung aus Spirituose, Zucker, Wasser und Bitters. Doch ist das automatisch ein Old-Fashioned?
Die Geschichte des Cocktails geht durch den Magen
Die alten Quellen berichten, daß man zur Spirituose die doppelte Menge an Wasser gab. Dadurch wird der Alkoholgehalt einem Royal Purl vergleichbar, und die in alten Büchern gefundene Aussage, man tränke einen „Cocktail“ bzw. „Cock-tail“ bereits am Morgen, wird verständlich: Er diente wie der Purl zur Erhaltung der Gesundheit. Aus medizinischen Gründen trank man Burnt Brandy, die in Stoughton‘s Bitters vorhandenen Enzian und Safran galten als gesundheitsfördernd, und so behandelte man mit dieser Medizin beispielsweise Verstopfung, Magenleiden und Appetitlosigkeit.
Es ist so zwar nicht überliefert, aber als vorteilhaft galt es sicherlich, wenn man alles gleichzeitig einnahm, beispielsweise einen gesüßten Brandy mit Stoughton‘s Elixir, mit zusätzlicher Wassergabe, um den Alkoholgehalt zu reduzieren. Schon hat man so etwas wie einen Cocktail vor sich.
Die fehlende Zutat
Doch eine wesentliche Zutat fehlt darin, um aus diesem Mischgetränk wirklich einen Cocktail zu machen. Eine Zutat, von der uns die amerikanischen Quellen nichts berichten. Es ist die namensgebende Zutat – der Ingwer.
Noch 1842 wird davon berichtet, daß man in der Nähe von London Ingwer-Cocktails trinke, und William Terrington publiziert in seinem 1869 in London erschienenen Buch Cooling Cups and Dainty Drinks Cocktail-Rezepte, die Ingwer oder Chili enthalten und teilweise sogar mit heißem Wasser zubereitet werden.
Wenn man diese Rezepte liest, meint man zunächst, William Terrington müsse entweder mehr wissen als alle anderen Autoren der letzten 150 Jahre, oder aber er müsse beim Schreiben seines Buches hochgradig verwirrt gewesen sein. Wie sich bei näherer Beschäftigung mit dem Thema zeigt, ist er tatsächlich der Einzige, bei dem die Cocktailrezepte noch einen Bezug zu dem aufweisen, was ein Cocktail ursprünglich war.
Den Schwanz höher tragen
Der Ingwer ist nicht nur die fehlende Zutat, sondern auch der Schlüssel für die Herleitung der Bezeichnung „Cocktail“. Ursprünglich stammt der Begriff aus der Pferdezucht. Nicht-reinrassige Pferde wurden so bezeichnet. Ihnen wurde der Schweif abgeschnitten, um sie zu kennzeichnen. Dadurch wurde dieser höher getragen und sah im übertragenen Sinne wie ein Hahnenschwanz aus, wie ein „cock tail“, so die wörtliche Übersetzung. Damit diese Pferde lebhafter und rassiger wirkten, halfen die Pferdehändler gerne etwas nach, indem man den Tieren eine kleine Knolle Ingwer oder auch eine Chilischote in den Anus schob. Dadurch trugen sie ihren Schweif noch höher. Man war diesbezüglich sehr kreativ. Es wird auch berichtet, daß manche Händler lebende Aale verwendet hätten.
Die Bezeichnung „Cocktail“ übertrug sich vom Pferd auf den Ingwer. Vom Ingwer übertrug sie sich auf das Mischgetränk, in das er gegeben wurde, und die Getränke behielten diesen Namen bei, auch als schon längst kein Ingwer mehr beigefügt wurde.
Es sei noch erwähnt, daß man bereits im 18. Jahrhundert nicht nur Ingwer, sondern auch Chili in seine Getränke gab – so wie es auch von William Terrington für Cocktails vorgeschlagen wurde. Auch in Amerika verwendete man in den Jahren nach der Unabhängigkeitserklärung Chili als Getränkezutat.
Der originale Cocktail
Leider gibt es für einen „Englischen Cocktail“ aus dem 18. Jahrhundert keine überlieferten Rezepte. Man kann ihn nur anhand zahlreicher Quellen rekonstruieren, es wird zahlreiche Varianten davon gegeben haben. Die hier vorgestellte Variante wurde zunächst theoretisch abgeleitet und dann durch „experimentelle Archäologie“ überprüft. Man kann sie etwa „Ye Olde English Cocktail“ nennen. Diese Bezeichnung nimmt eine englische Ausdrucksweise des 18. Jahrhunderts auf. Als „ye olde english“ bezeichnete man etwas sehr Altes und Traditionelles.
5 cl kaltes Wasser aus dem Wasserhahn
2 cl Cognac
0,5 cl Ingwer-Brandy
0,5 cl Zuckersirup
0,5 cl Mary Kettilby’s Bitter
Zubereitung: Alles in einem Glas miteinander vermischen. Kein Eis verwenden. Zur Herstellung des Ingwer-Brandy gibt man 20 g grob gemörserten Ingwer in 150 ml Cognac und seiht nach zwei Wochen ab.
Mary Kettilby’s most excellent Bitter
Die exakte Rezeptur von Stoughton’s Bitters ist leider nicht überliefert. Doch weiß man, dass Enzian, Safran und Orange die Hauptzutaten waren. Ersatzweise liegt eine Entscheidung für Mary Kettilby‘s Bitter nah. Das Rezept stammt vom Anfang des 18. Jahrhunderts. Dort heißt es:
»Ein ausgezeichneter Bitters, nicht minderwertiger als Stoughton’s Drops. Nimm zwei Unzen Enzianwurzel, die Schale von neun Orangen, sie müssen die größten echten Sevilla-Orangen sein, und sehr dünn geschnitten, zwei Drachmen Safran und zwei Drachmen Cochenille; lass alles in einem Quart Brandy durchziehen, in der heißesten Sonne, dann filtere es durch weiß-braunes Papier: Danach kannst Du zwischen zwanzig Tropfen und einen Teelöffel voll davon in Wein, Bier, Tee oder jeden Alkohol, den Du magst, nehmen.«
Auf die Zugabe der im Rezept auch verlangten Schildläuse kann verzichtet werden, denn diese Zutat wird wohl nur zur Rotfärbung verwendet worden sein. Umgerechnet ergibt sich:
15 ml getrocknete Enzianwurzel
Zesten von 2 Orangen
0,33 Gramm Safran
225 ml Cognac
48 Stunden ziehen lassen, dabei gelegentlich schütteln. Anschließend filtern und in Flaschen abfüllen.
Der ursprüngliche Cocktail war eine Art Punch
Den ursprünglichen Cocktail muss man als eine Art Punch begreifen. Letzterer besteht klassisch aus Wasser, Spirituose, Zitrone und Zucker, garniert mit etwas Gewürz wie beispielsweise Muskatnuss. Um ihm eine medizinische, gesundheitsfördernde Ausrichtung zu geben, ersetzte man Zitronensaft und Gewürz durch Ingwer und Bitters.
Gleichzeitig sollte wie beim Punch keine Zutat im Vordergrund stehen. Alles muss so aufeinander abgestimmt sein, dass der Cocktail weich, angenehm und nicht zu fade ist. Die Spirituose soll zwar wahrnehmbar sein, nicht jedoch ihre Stärke und Schärfe. Zu der Zeit, als man dieses Getränk zu sich nahm, gab es in der Regel kein Eis. Wie auch der Punch bedarf dieser Cocktail des Eises nicht. Ist er zu kalt, wird sein Duft gedämpft und seine zarte Harmonie geht verloren. Man darf also keinesfalls auf Eis rühren, sondern lediglich kaltes Wasser aus dem Hahn verwenden. Dieser rekonstruierte Cocktail schmeckt anders, als man es bei einen Cocktail erwartet, punchartiger und ungewöhnlicher. Doch je mehr man davon trinkt, desto mehr möchte man davon haben. Bis man dann irgendwann Lust auf einen Old Fashioned bekommt.
Die Geschichte des Cocktails
Teil 1: Der Ursprung des Cocktails
Teil 3: Der Brandy Crusta (1862)
Teil 4: Der Japanese Cocktail (1862)
Teil 5: Der East India Cocktail (1882)
Teil 6: Der Manhattan Cocktail (1882)
Teil 7: Der Bamboo Cocktail (1886)
Teil 8: Der Princeton Cocktail (1895)
Teil 10: Der Deshler Cocktail (1916)
Teil 11: Der Aviation Cocktail (1916)
Credits
Foto: ©Sarah Swantje Fischer
Peter Schütte
Klasse! Dem ist nichts hinzuzufügen.
marvin
das sieht sehr lecker aus sehr cool. mach ich jetzt mal nach